Der Mensch ist ein Gewohnheitstier – das gilt nicht nur für seine täglichen Rituale, sondern auch für das, was er als genießbar oder ungenießbar empfindet. Geschmack ist keineswegs nur eine biologische Reaktion, sondern ein kulturelles Konstrukt. Was in einem Land als Delikatesse gilt, kann in einem anderen Abscheu hervorrufen. Der Begriff „Acquired Taste“ beschreibt jene Geschmäcker, die viele Menschen nur durch wiederholtes Probieren zu schätzen lernen. Dabei spielen nicht nur persönliche Vorlieben, sondern vor allem gesellschaftliche und kulturelle Einflüsse eine entscheidende Rolle.
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Der Einfluss der Kultur auf den Geschmack
In jeder Kultur gibt es bestimmte Nahrungsmittel, die als besonders wertvoll und delikat gelten. Gleichzeitig gibt es Speisen, die von Außenstehenden als unappetitlich oder gar widerlich empfunden werden. Doch warum? Geschmack ist nicht angeboren, sondern geprägt. Was man als Kind lernt, prägt den Gaumen und die Geschmacksvorlieben ein Leben lang. In vielen Fällen entscheiden Traditionen und Gewohnheiten, was genossen und was vermieden wird.
Ein Beispiel: In Europa und Nordamerika wird Käse als wertvolle Delikatesse geschätzt. Doch die Vorstellung, gereiften Käse wie den französischen Roquefort, der durch den Einsatz von Schimmelpilzen hergestellt wird, zu verzehren, könnte für Menschen aus Asien oder Afrika ekelerregend sein. Schimmel wird in vielen Kulturen als Zeichen von Verderbnis betrachtet, während er in der westlichen Welt Teil des Veredelungsprozesses von Käse ist.
Regionale Unterschiede: Was als Delikatesse gilt
Jeder Kontinent bietet faszinierende Beispiele für „Acquired Taste“-Speisen, die lokale Identitäten prägen und zugleich für Außenstehende ungewohnt wirken.
Europa: Surströmming und Casu Marzu
In Schweden gilt Surströmming, vergorener Hering, als nationaler Stolz. Der Fisch wird in der Dose fermentiert, was einen durchdringenden Geruch entwickelt. Für viele Außenstehende ist dieser Geruch schier unerträglich. Doch wer in Schweden damit aufgewachsen ist, empfindet das Aroma als Teil der Tradition und genießt den intensiven Geschmack des salzigen Fisches.
Ein weiteres Beispiel aus Europa ist der Casu Marzu, ein sardischer Käse, der mit lebenden Maden reift. Für viele Menschen außerhalb Sardiniens ist der Verzehr dieses Käses kaum vorstellbar, während Einheimische ihn als wahre Delikatesse feiern. Diese Beispiele zeigen, dass es oft Mut und Wiederholung braucht, um einen solchen Geschmack schätzen zu lernen.
Asien: Natto und Balut
Japan bietet mit Natto, fermentierten Sojabohnen, ein Paradebeispiel für ein erworbenes Geschmacksempfinden. Natto ist für seinen starken, erdigen Geruch und die schleimige Konsistenz bekannt. Viele Menschen, die nicht mit Natto aufgewachsen sind, kämpfen zunächst mit Ekelgefühlen. Doch in Japan wird das Gericht als nährstoffreich und gesund geschätzt.
In den Philippinen wird das balut gegessen – ein befruchtetes Entenei, in dem sich der Embryo bereits entwickelt hat. Das knusprige Küken und der halbflüssige Dotter bieten für ungeübte Esser eine extreme Herausforderung, während es für viele Filipinos ein beliebter Snack ist, der auf Märkten und Straßenständen verkauft wird.
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Afrika: Mopane-Würmer
In vielen afrikanischen Ländern, insbesondere in Simbabwe, gelten Mopane-Würmer als Proteinquelle und Delikatesse. Diese großen Raupen werden getrocknet, frittiert oder gekocht und dienen als nahrhafter Snack. Für westliche Reisende, die nur selten Insekten konsumieren, könnte der Verzehr von Würmern mit Ekel verbunden sein. Doch für die lokale Bevölkerung sind Mopane-Würmer eine wertvolle Ressource und ein traditionelles Gericht.
Australien: Witchetty Maden
Australien bietet mit den Witchetty-Maden ein weiteres Beispiel. Diese großen, fetten Maden, die in den Wurzeln von Sträuchern leben, sind ein wichtiger Bestandteil der Ernährung der Aborigines. Rohe oder leicht gegrillte Witchetty Maden bieten eine cremige Textur und gelten als nahrhafter Snack, der für viele Touristen jedoch schwer zu überwinden ist.
Ekel als soziale Prägung
Interessanterweise gibt es auch Lebensmittel, die in fast allen Kulturen ähnlich abgelehnt werden. Doch auch das Gefühl von Ekel ist sozial konstruiert. Was wir als unappetitlich empfinden, wurde uns oft von klein auf beigebracht. Wenn wir zum Beispiel sehen, dass unsere Eltern bestimmte Speisen verschmähen oder uns vor etwas warnen, übernehmen wir diese Einstellung meist unbewusst.
So sind in westlichen Ländern Insekten als Nahrungsmittel oft mit Ekel behaftet, während sie in vielen Teilen Asiens und Afrikas als gesunde und nachhaltige Proteinquelle gelten. Auch Blut- und Innereiengerichte sind ein hervorragendes Beispiel dafür, wie stark Ekel kulturell geprägt ist. Blutwurst wird in vielen Teilen Europas und Südamerikas geschätzt, während sie für andere nahezu ungenießbar erscheint. In Tschechien gibt es Prdelačka, eine blutbasierte Suppe, die für viele andere Europäer gewöhnungsbedürftig sein könnte, aber in ihrer Heimat als traditionelle Köstlichkeit gilt.
Warum lohnt es sich, neue Geschmäcker zu erkunden?
Obwohl es anfangs schwierig sein mag, neue Geschmäcker und Texturen zu akzeptieren, kann das Erkunden fremder Speisen unser Verständnis von anderen Kulturen erweitern. Wer mutig genug ist, Gerichte zu probieren, die zunächst abstoßend wirken, erlebt oft nicht nur kulinarische Überraschungen, sondern erweitert auch seine Sichtweise auf die Welt.
Im Laufe der Geschichte haben sich viele „Acquired Tastes“ in der globalen Küche etabliert. So war Sushi in der westlichen Welt einst eine exotische und umstrittene Speise, die nur wenige Menschen wagten zu probieren. Heute ist Sushi weltweit beliebt. Ebenso könnte der westliche Ekel vor Insekten in den kommenden Jahrzehnten einer neuen Wertschätzung als nachhaltige Nahrungsquelle weichen.
Fazit: Der Gaumen als Brücke zwischen Kulturen
Der Geschmack ist eng mit unseren kulturellen Wurzeln verbunden, doch er ist nicht in Stein gemeißelt. Was uns fremd und ungenießbar erscheint, ist für andere das tägliche Brot. Die Bereitschaft, neue Geschmäcker zu entdecken, kann nicht nur den eigenen Horizont erweitern, sondern auch helfen, Vorurteile abzubauen und kulturelle Brücken zu schlagen. Ob Surströmming, Balut oder Witchetty Maden – jede dieser Speisen erzählt eine Geschichte über die Menschen, die sie genießen, und ihre Kultur. Am Ende des Tages liegt die Delikatesse im Auge des Betrachters – oder besser gesagt, auf seiner Zunge.